Das Geheimnis der Fliegenden Flüsse

Mitte des 19. Jahrhunderts hatten viele Bauern in den zentral gelegenen Bundesstaaten der USA mit Erosion zu kämpfen. Um dem Verlust von fruchtbarem Boden durch Stürme, Wind und Wasser entgegenzuwirken, pflanzten sie Bäume. Der Politiker und Farmer Julius Sterling Morton war einer der Ersten, der sein Anwesen konsequent aufforstete. Bereits nach kurzer Zeit verringerte sich die Bodenerosion und die Artenvielfalt nahm zu. Daraufhin beantragte Morton die Einführung eines „Tags des Baumes“, damit sich alle immer an diese wichtigen Leistungen der Bäume erinnern würden. 1872 wurde der „Tag des Baumes“ das erste Mal in Nebraska gefeiert, 20 Jahre später dann in ganz Amerika. Inzwischen werden an diesem Tag die Bäume auf der ganzen Welt geehrt und Bäume gepflanzt.

Heutzutage sind wir uns bewusst, dass Bäume weit mehr leisten als nur Erosionsschutz. Die Bäume halten die Erde nicht nur mit ihren Wurzeln fest und sind über das Wurzelgeflecht miteinander verbunden, sondern sie verbinden auch jeden Teil des Planeten Erde. Letztlich ist ihr Leben untrennbar mit allem Leben und somit auch mit den Menschen verknüpft. Denn die Bäume produzieren Sauerstoff (wodurch jeder Baum zwei Menschen am Leben erhält), schenken uns Holz und Früchte, spenden uns Schatten an heißen Tagen, bilden Lebensräume für unzählige Tiere und Pflanzen und regulieren das Klima und den Wasserkreislauf.

Wenn man vom Wasserkreislauf spricht, denken wir meistens erst einmal an den „Großen Wasserkreislauf“: Wasser verdunstet über den Meeren, steigt auf, kondensiert zu Wolken, wird durch Winde über das Festland transportiert, regnet dort ab und fließt schließlich über die Flüsse zurück in das Meer. Dieser Kreislauf würde theoretisch auch ohne Bäume funktionieren. Doch es gibt auch noch den „Kleinen Wasserkreislauf“, der trotz seines Namens gigantische Wassermassen zehntausende von Kilometern weit über Landflächen transportiert. Dieser Wasserkreislauf ist gänzlich von Bäumen und Wäldern abhängig.

Alles beginnt mit einem einzelnen Baum, der pro Tag im Durchschnitt 400 Liter Wasser verdunsten lässt.1)Pokorny (2019): Evapotranspiration. In: Encyclopedia of Ecology, Elsevier pp. 292-303 Das schafft er vor allem durch seine zahlreichen Blätter, die zusammen riesige Flächen bilden, durch die und auf denen ständig Wasser verdunstet. Dabei handelt es sich nicht nur um Wasser, das der Baum zusammen mit Nährstoffen aus seinen Wurzeln vom Grundwasser bezieht, sondern es verdunstet auch Regenwasser, das auf den Blättern zurückbleibt. Das Wasser steigt auf, kondensiert als Wolken und wird über Winde weitertransportiert, bis es wieder abregnet, wobei das meiste erneut von Bäumen aufgefangen wird, um erneut zu verdunsten. Der Großteil des Regens wird immer und immer wieder dem Kleinen Wasserkreislauf zugeführt. Im Durchschnitt wird das Wasser in den Wolken etwa 2’000 Kilometer weit befördert, bis es abregnet und der Zyklus wieder von Neuem beginnt, wodurch das Wasser weit über die Kontinente transportiert wird – als „Fliegender Fluss“. Es sind also die Wälder und somit jeder einzelne Baum, die den Kleinen Wasserkreislauf erzeugen und für eine Gleichverteilung des Wassers auf dem Planeten sorgen. Die Bäume helfen dem Planeten, in seinem Gleichgewicht zu bleiben, und stellen jedem Lebewesen, zumindest was das Wasser betrifft, ähnliche Bedingungen zur Verfügung.

Es gibt immer gleich viel Wasser auf der Erde. Trockenheit und Dürren entstehen erst, wenn die Fliegenden Flüsse zum Erliegen kommen und das Wasser nicht mehr gleichmässig verteilt wird. Die Umwandlung von Wäldern in landwirtschaftliche Flächen und Siedlungen und die zunehmende Abholzung von Wäldern, um Profit zu machen, führten auf dem ganzen Planeten in den letzten Jahren dazu, dass jedes Jahr rund 5% weniger Wasser von der Erdoberfläche verdunsten konnte als noch im jeweiligen Vorjahr, was auch den Transport des Wassers durch Fliegende Flüsse verminderte.

Die Fliegenden Flüsse sind nur eines von vielen Beispielen in der Natur, die zeigen, wie alles Leben miteinander verbunden ist. Der Regen in China hat seinen Ursprung zu 80% in europäischen Wäldern und über die Wälder Russlands wird das Wasser bis nach China transportiert. Genauso stammen 70% des Regens in den südlichen Regionen Südamerikas aus dem Amazonas und auch Nordamerika ist vom tropischen Regenwald Südamerikas abhängig.2)Makarieva & Gorshkov (2020): A controversial Russian theory claims forests don’t just make rain-they make wind. The Biotic Pump Greening Group Im Nordwesten der USA gibt es nachweislich bereits bis zu 20% weniger Niederschlag im Sommer und nur noch halb so viel Schnee im Winter aufgrund der Abholzung des tropischen Regenwaldes im Amazonas-Gebiet.3)Medvigy, Walko, Otte & Avissar (2013). Simulated Changes in Northwest U.S. Climate in Response to Amazon Deforestation, Journal of Climate, 26(22), 9115-9136.

 

Jeder Tropfen Wasser kommt irgendwann über die Wasserkreisläufe zu uns zurück. Die Nationen dieser Erde sind über die Fliegenden Flüsse miteinander verbunden, denn die Natur kennt keine Grenzen. Auch wir Menschen müssen zusammenarbeiten und erkennen, dass wir alle auf die eine oder andere Weise miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Wenn wir in Europa einen Baum pflanzen, helfen wir zunächst unseren Mitmenschen in China, frisches Trinkwasser zu erhalten. Doch der Kreislauf geht weiter und das Wasser in China, das seinen Ursprung in Europa hatte, wird früher oder später auch wieder in Europa benötigt und nach einer langen Reise auch dort wieder als Regen vom Himmel fallen. Wenn wir wollen, dass wir selbst und alle Menschen auf diesem Planeten ausreichend frisches Süßwasser zur Verfügung haben, müssen wir die Wälder dieser Erde erhalten und ehemalige Wälder wieder aufforsten. Da wir es geschafft haben, natürliche Kreisläufe wie die Fliegenden Flüsse zu behindern, haben wir auch die Kraft und Fähigkeit, diese Kreisläufe wiederherzustellen, indem wir wieder mehr Bäume pflanzen.

Werden wir uns unserer Verantwortung für den Planeten bewusst und erkennen wir, dass jeder einzelne Baum zählt und einen wichtigen Beitrag für den ganzen Planeten leistet. Tun Sie nicht nur der Natur und dem Klima, sondern auch Ihrem Mitmenschen und sich selbst etwas Gutes und pflanzen Sie am Tag des Baumes, Freitag, den 28. April 2023, einen Baum … oder auch zwei oder drei!

References

References
1Pokorny (2019): Evapotranspiration. In: Encyclopedia of Ecology, Elsevier pp. 292-303
2Makarieva & Gorshkov (2020): A controversial Russian theory claims forests don’t just make rain-they make wind. The Biotic Pump Greening Group
3Medvigy, Walko, Otte & Avissar (2013). Simulated Changes in Northwest U.S. Climate in Response to Amazon Deforestation, Journal of Climate, 26(22), 9115-9136.

https://www.naturalscience.org/de/news/2023/04/tag-des-baumes-das-geheimnis-der-fliegenden-fluesse/